Bei aller Verschiedenheit in der Größe und im Wesen, hatten beide eines gemeinsam: Chicca fühlte sich keineswegs wehrlos und Tara bestätigte sie darin, je mehr sich die Kleine mit ihr verbunden fühlte und in ihrem neuen Zuhause Wurzeln schlug. Es dauerte nicht lange, da hatte sie sich vollends eingelebt und trug eine Unbekümmertheit zur Schau, die exemplarisch schien. Im Verhältnis zu Tara legte sie mit der Zeit eine geradezu verdächtige Sicherheit an den Tag, die mich stutzig machte. Zwischen den beiden war etwas im Gang, das sich meiner Aufmerksamkeit bislang entzog. Ich beschloss dahinter zu kommen was es damit auf sich hatte. Ich fütterte die Hunde gewöhnlich in der Frühe kurz vor 9 Uhr, bevor ich in die Praxis ging. An einem Mittwoch jedoch kam ich nicht mehr dazu, weil ich einen Notfall hatte, und versorgte die Tiere erst nach 12 Uhr, als ich wieder zu Hause war. Und weil ich Mittwochnachmittag keine Sprechstunde hielt, versuchte ich mich gleich nach der Fütterung auf der Terrasse zu erholen. Tara hatte ihren Napf in der Küche, Chicca im Esszimmer. Die halbgeöffnete Terrassentür gab den Blick auf die Näpfe beider Tiere frei.

Tara verschlang ihre Mahlzeit wie immer hastig, Chicca hingegen stocherte zunächst schnippisch, dann spielerisch in ihrem Napf herum, fing schließlich zu essen an, ließ aber die Hälfte übrig. Danach zog sie sich rasch in ihr Körbchen zurück und observierte von dort ihren Napf.

Kaum war Chicca in ihrem Bau verschwunden, erhob sich Tara flink von ihrem bequemen Lager und tastete sich umsichtig wie auf weichen Pfoten in Richtung Esszimmer auf Chiccas Napf zu. Sie blieb aber am Türrahmen stehen, als wollte sie sich vergewissern, ob die Luft rein sei. Die in ihrem Körbchen versteckt lauernde Chicca gab keinen Laut von sich, als harrte sie der Dinge, die da kommen würden. Die Atmosphäre im Esszimmer und um den Napf war gespannt wie vor einem explosiven Ereignis. Tara schien sich ihrer Sache sicher und bewegte sich mehr und mehr auf den Napf zu. Doch kaum hatte sie mit ihrer Nasenspitze seinen Rand erreicht, da machte Chicca einen Satz aus dem Versteck, zerriss mit ihrem metallenen Gebell die Stille und vertrieb die gefräßige Tara. Wie aufs tiefste gedemütigt, trollte sich die Dalmatiner-Hündin zunächst mit gesenktem Kopf davon, blieb aber, sobald sie außer Sichtweite war, hinter dem Türrahmen stehen, als wartete sie dort auf eine neue gute Gelegenheit, sich der restlichen Mahlzeit von Chicca zu bemächtigen. Letztere wiederum zog sich ebenfalls zurück in ihr Körbchen, ganz offensichtlich darauf wartend, dass Tara erneut einen Fehler mache. Als ich danach immer öfter Zeuge dieses Spiels wurde, sah ich ein, dass meine Hunde ihre Rollen längst einstudiert hatten: Mit der Zeit war es der kleinen Chicca  gelungen, die große Tara beim Füttern so zu disziplinieren und in die Schranken zu weisen, dass sie vor ihr und vor dem Inhalt ihres Napfes bald großen Respekt hatte; obwohl das Spiel um den Napf selbst immer wieder von neu inszeniert wurde. Ein vergleichbar harmonisches, abwechslungsvolles und äußerst friedliches Hundepaar wie Tara und Chicca konnte ich mir damals kaum vorstellen. Daran änderte sich auch dann nichts, wenn bei Spaziergängen oder auf Wanderungen ein anderer Hund sich ihnen anschloss.